«Bund kommuniziert beim Wasser widersprüchlich»

An einzelnen Messstellen ist die Pestizidbelastung im Grundwasser 27-mal höher als der Grenzwert. Ein Experte sagt, dem Bund fehle ein Konzept.Das in der Landwirtschaft eingesetzte Fungizid Chlorothalonil ist seit Anfang Jahr verboten. Der Bund hat es als «wahrscheinlich krebserregend» für den Menschen eingestuft. Das in der Landwirtschaft eingesetzte Fungizid Chlorothalonil ist seit Anfang Jahr verboten. Der Bund hat es als «wahrscheinlich krebserregend» für den Menschen eingestuft.

Neue Daten zeigen nun: An gewissen Messstellen wurde die Konzentration des Chlorothalonil-Rückstandes R471811 um das 27-fache überschritten. «Die Wasserversorger machen ihren Job nicht. Sie haben keinen Plan, wie sie die Rückstände verhindern wollen und sie äussern sich nicht einmal zum Thema», sagt Franziska Herren von der Trinkwasser-Initiative. Paul Sicher vom Schweizerischen Verein des Gas- und Wasser sagt: «Wir rechnen damit, dass auch beim Trinkwasser ein grosser Teil des Mittellandes von Chlorothalonil-Rückständen betroffen ist.» Eine direkte gesundheitliche Gefährdung gehe davon nicht aus, sagt Sicher. Aber: «Wir können nicht tolerieren, dass zukünftige Generationen belastetes Wasser trinken.» Das Pflanzenschutzmittel Chlorothalonil darf in der Schweiz seit Januar 2020 weder verkauft noch verwendet werden. Grund ist, dass eine Gefährdung der Gesundheit nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Aargauer Wasserversorger müssen das Trinkwasser nun auf ein weiteres Abbauprodukt des Pestizids untersuchen. Es sei davon auszugehen, dass rund zwei Drittel der Trinkwasserfassungen erhöhte Rückstandswerte des Abbauprodukts Chlorothalonil-Sulfonsäure aufwiesen, teilt der Kanton mit. Der Stoff gilt nach einer Einschätzung der EU-Kommission als «wahrscheinlich krebserregend». Der Bund hat sich dieser Einschätzung angeschlossen.

Seit Anfang Jahr ist das Fungizid Chlorothalonil, das gegen Pilzbefall in der Landwirtschaft eingesetzt wird, verboten. Eine 2017 durchgeführte Messung von ETH-Forschern zeigte, dass die Rückstände den heute geltenden Grenzwert teils um das 27-fache übersteigen. Nun machte die «Sonntagszeitung» öffentlich, wo sich die meist belasteten Messstellen befinden. Viele von ihnen befinden sich im Mittelland, im Zürcher Weinland oder in der Westschweiz (20 Minuten berichtete). Urs Klemm, der früher für das Schweizer Trinkwasser verantwortlich war, sagt, warum er sich keine Sorgen macht.

Das sagt der Bund

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit teilt mit, gemäss Lebensmittelrecht seien die Wasserversorger dafür verantwortlich, im Rahmen ihrer Selbstkontrolle Analysen zu machen und Vorkehrungen zu treffen, damit das Trinkwasser den rechtlichen Vorgaben entspreche. «Etliche Versorger haben das gemacht, andere leider nicht», so Sprecherin Eva van Beek. Die Selbstkontrolle der Wasserversorger werde von kantonalen Stellen überprüft, etwa mit Stichproben. «Kleinere Wasserversorger sind eventuell überfordert und es macht Sinn, wenn sie sich zu regionalen oder überregionalen Wasserverbünden zusammenschliessen», so van Beek.

Herr Klemm*, an 20 von 31 Standorten lagen 2017 die Konzentrationen eines Chlorothalonil-Abbauprodukt über dem heutigen Grenzwert. Sind sie überrascht?

Nein. Rückstände hat es im Trinkwasser seit jeher gegeben, man hat aber klar zwischen Qualitätszielen in Form von Toleranzwerten und Gesundheitslimiten als Grenzwerte unterschieden. Im Zuge der Anpassung an die EU sind nun beide unter dem Begriff «Höchstwert» zusammengefasst und auf einem sehr tiefen Niveau festgelegt worden. Dies erfordert, dass jeweils beurteilt werden muss, welche Massnahmen angemessen sind. Dieser Wechsel ist allerdings zu wenig bekannt und so liest man landauf landab immer noch von «Grenzwerten». Es entsteht der Eindruck, dass man beim Wassertrinken vergiftet wird.

Das ändert nichts daran, dass diese Höchstwerte überschritten werden.

Das trifft leider zu, Massnahmen sind gefragt. Die Frage ist allerdings, was unternommen werden soll, in welchem Zeitraum und mit welchem Aufwand. Man muss der Gesundheit, Umwelt und Wirtschaft Rechnungtragen. Ich habe den Eindruck, dass heute ein mehr oder wenig koordinierter Aktionismus herrscht.

Wie meinen sie das?

Offenbar aus Angst vor der Trinkwasserinitiative werden von den Wasserversorgern und Bauern von vielen Seiten Massnahmen gefordert, die wenig bringen aber viel kosten. Statt Panikentscheiden, die auf Bauchgefühl basieren brauchen wir eine rationale Gesamtstrategie. Gegenwärtig kommunizieren die Bundesämter für Landwirtschaft, für Lebensmittelsicherheit und für Umwelt mehr oder weniger koordiniert oder sogar widersprüchlich. Von aussen ist jedenfalls keine klare Koordination erkennbar.

Was braucht es, damit sich das ändert?

Behörden sind schon durch das Tagesgeschäft reichlich ausgelastet, es braucht einen gewissen Druck, um dieses zurück zu stellen und neue Prioritäten zu setzen. Dieser ist offenbar noch nicht genug hoch. Es müssten alle an einen Tisch sitzen und sich über die jetzt erforderlichen Massnahmen und eine Strategie für die nächsten 15 Jahre entwickeln und umsetzen. Dann könnte man kommunizieren, welche Schritte man unternimmt, um Probleme mit dem Wasser in den Griff zu kriegen. So würde Vertrauen geschaffen.

Was müsste in so einer Strategie stehen?

Wasserqualität erfordert einen umfassenden Ansatz. Erst einmal ist es wichtig, die Schutzzonen so festgelegt und respektiert werden, dass das Wasser nicht verschmutzt wird. Industrie und Landwirtschaft sind gefordert, besser abbaubare Pestizide und Einsatztechniken zu entwickeln und anzuwenden.

Und weiter?

Für gleichmässige Wasserqualität braucht es auch grössere Verbundnetze. Das wird schon wegen des Klimawandels und häufigerer Trockenheit noch wichtiger. Eine einfache Lösung gibt es nicht, da Gesamtsystem ist sehr komplex ist, nötig sind aufeinander abgestimmte Massnahmen, nicht Einzelaktionen.

Sie tönen so, als wäre die Pestizidbelastung kein grosses Problem. Doch viele Konsumenten haben Angst und fürchten um ihr Wasser. Sie wollen jetzt eine Reaktion sehen und nicht in 15 Jahren.

Ich halte es für fahrlässig, von krebserregenden Substanzen zu reden, ohne Risikoabschätzung zu machen. Es ist die Menge, die das Gift ausmacht. 0.1 ug/l ist eine sehr tiefe Konzentration. Nimmt man die täglich akzeptable Menge der WHO für Chlorothalonil zum Massstab, so müsste man täglich eine Badewanne Wasser trinken, um dies auszuschöpfen. Allerdings gibt es Abbauprodukte zu berücksichtigen. Dennoch: auf der Skala des mit dem Lebensmittelkonsum verbundenen Risiken kommt Pestiziden die zweitletzte Stelle zu, Fehlernährung und Genussmittel stehen dagegen an erster Stelle.

Viele Konsumenten sind wütend und werfen dem Bund Verschleierung vor. Die Initianten der Trinkwasserinitiative sagen, die Behörden führten uns hinters Licht. Wie erklären sie sich das?

Wasser ist mit vielen Emotionen verbunden und es ist richtig und wichtig, dass die örtlichen Wasserwerke und nicht der Bund ihre Kunden über den Stand der Dinge informieren. Allerdings darf man die Konsumenten nicht einfach mit Analyseergebnissen und der Etikette «krebserregend» allein lassen. Was dazu gehört ist eine klare Beurteilung sowie ein nachvollziehbarer Massnahmenplan. Damit schafft man Vertrauen.

Muss also gar nichts unternommen werden?

Doch, natürlich. Niemand kann ein Interesse daran haben, irreversible Schäden an der Natur zu verursachen. Pestizid- und andere Rückstände ökologisch höchst unerwünscht, wir wollen letztlich nicht jeden Bereich der Umwelt bis zur Grenze belasten. Deshalb ist es wichtig, die nötigen Massnahmen zu treffen. Aber eine Reaktion muss nicht im Panikmodus geschehen.

* Urs Klemm war Vizedirektor des Bundesamt für Gesundheit und Leiter der Abteilung Lebensmittel. Der Lebensmittelchemiker ist Beiratsmitglied des Konsumentenforum.

Quelle (20min)